Artikel: 10 Sekunden[ Kolumne ]
25.08.2006  |   Klicks: 4404   |   Kommentare: 11   |   Autor: Kawakazee
10 Sekunden
Zeit ist heutzutage ein kostbares Gut. Zeit wird gespart, wo man kann. Es geschieht unbewusst und in Situationen, die man nie als solche einschätzen würde. Stereotypen bestimmen das Leben. Die Intension, sich mit „unnötigen“ Dingen beschäftigen zu müssen, so wie die eingängige Beurteilung des Gegenüber, ist die Maxime in vielen Lebenslagen. So heißt es im Volksmund, es reichten 10 Sekunden um Sympathie oder Antipathie für oder gegen einen Menschen zu erwecken. Doch ist diese Art von Zeitersparnis so zweckdienlich, wie es das eigene Bewusstsein propagiert?
10 Sekunden... ist das eine Zeitspanne, die es einer Person erlaubt sich ein Urteil über andere zu bilden? Wie festgefahren ist dieses Urteil dann? Es ist ein Kreuz mit dieser Zeitspanne, einem unbewussten Kontinuum, in dem sich die Welt verändern kann, es nicht tut, oder nur so scheint. Ein unbewusster Augenblick, ein zufälliger, nicht intendierter Blick, ein Augenzwinkern und man ist zu einem Schicksal verdammt, welches die Realität nicht widerzuspiegeln vermag, welches jedoch in den Vorstellungen der Menschen mehr als nur die Realität ist! Es ist ihr Bewusstsein, durch diesen Augenblick einen Menschen zu kennen!

So geschah es denn einmal, dass ein kleiner Mann durch den Wust von Menschen herschlenderte, auf der Suche nach einem ihm bekannten Gesicht. Dieser Abend war einer derer, der trotz der ausgelassenen Menschenmenge um die Person herum einen melancholischen, fast meditativen Charakter besaß.
Auf seinem Streifzug durch die Winkel der Heiterkeit sah er Menschen, unbewusst in einem ihm verschlossenen Raum seines Geistes, sich mit ihnen freuend, jedoch fast in einer anderen Welt, fixiert darauf, bekannte Gesichter zu erspähen, zu fixieren und aufzusuchen. Mitten unter ihnen. Und doch getrennt von der Masse.
Nun denn! Er erkennt eine Gestalt, einen ihm vertrauten Umriss, einen Halt in der Anonymität der Menge. Zielgesetzt strebt er gen diesem Punkt der Vertautheit, doch er stockt! Der Punkt erweitert sich zu einem Fleck, dieser zu einer Traube von Menschen, lachend und feiernd. Eine Annäherung ergibt sich in der Verwirklichung des Primärziels: dem Treffen des Freundes.
Doch was nun!? Eine bisher unbekannte Person erhascht einen Blick auf den sich nähernden Schatten des Suchenden:

Sekunde 1: Beide Personen wenden sich einander zu.
Sekunde 2: Die Personen fixieren sich mit ihren Blicken.
Sekunde 3: ein Check der Gesichtszüge.
Sekunde 4: ein Check der Haltung und der vermuteten Intensionen
Sekunde 5: prüfender Abschlussblick.
Sekunde 6: Start der Meinungsbildung.
Sekunde 7: Skeptischer Blick auf den Außenseiter.
Sekunde 8: Die bisher neutrale Person dreht sich weg, ignoriert den Suchenden demonstrativ!
Sekunde 9: eine Sekunde der Irritation und Selbstreflexion.
Sekunde 10: ZONK! Urteil gebildet!

Es sind 10 Sekunden gewesen, ohne Bedarf jeglicher Konversation, die zwei Menschen von einander abstoßen wie die gleichen Pole von Magneten es tun. In den einzelnen Phasen mag sich der Ablauf solcher Begegnungen unterscheiden, jedoch ist das Grundmuster doch immer gleich: 10 Sekunden. 10 Sekunden, die Jahre ersetzen? Oder eher 10 Sekunden, die den Grundstein legen für Menschen, die sich begegnen. Ist diese Festlegung aber endgültig? Schaffen 10 Sekunden ein ewig anhaftendes Stigma, weitere Erwartungen und Stereotypen schürend? Ist jede weiter Begegnung ein weiterer Stein in der Mauer, die im gegenseitigen Einverständnis um sich gezogen wird? Schaffen 10 Sekunden tatsächlich das Fundament eines Walls, in dessen engstirnigen Wunsch zur Rationalisierung der Welt man an Oberflächlichkeit emotional zu verhungern droht? Erstickt man im Smog seiner eigenen Arroganz? Oder treibt der Durst nach menschlicher Nähe an die Quelle der Unsicherheit?
Letzteres birgt jedoch Gefahren: Man gibt sich dem Risiko hin, vergiftet zu werden! So hat man die Alternativen: Die Gefahr, seelisch vergiftet zu werden, beim Versuch hinter die Kulissen zu schauen, oder mit Sicherheit emotional und sozial sterben.
Es mag sein, dass man jetzt denkt: Schwachsinn! Ich bin nicht so! 10 Sekunden sind in keinster Weise für ein Urteil solcher Tragweite ausreichend! Jedoch nimmt man sich ein Quäntchen des Kostbaren Gutes der Zeit und reflektiert....
Ihr habt 10 Sekunden! Die Zeit läuft: JETZT!
 
Bewertung [1-5]: 3.3 Punkte [26 Stimmen]  
Nur registrierte und eingeloggte User können Artikel bewerten.

11 Kommentare zu diesem Artikel
25.08.06, 15:33 Uhr #1 von Sophisticated83
Hey Kawa - erstmal glückwunsch zur ersten kolumne

ich habe immer wieder feststellen müssen, dass mir diese berühmten zehn Sekunden reichen um festzustellen, ob ich mich auf eine Person näher einlassen möchte oder nicht -
Ergo: Gespräch beginnen vs. Ignorieren.
Mag arrogant sein, aber ich denke, dass wir alle unsere persönlichen Selektionsmechanismen in uns tragen.
Die hat der Mensch eben genetisch verankert und richtet sich instinktiv nach seinem Geenpool (die Biologin geht wieder durch mit mir, pardon).

Sicher kann man sich auch täuschen und es zeugt von Oberflächlichkeit, aber eben auch von Menschenkenntnis. Ist nicht so, dass ich nach Äußerlichkeiten beurteile, das wäre ja fatal, sondern nach etwas, das ich einfach mal "Schwingung" nennen möchte.

Endweder man funkt auf der gleichen Wellenlänge oder eben nicht...Manche bekommen auch ne Minute Zeit, um die Frequenz zu suchen bei mir

In diesem Sinne,
Die AC
Dieser Eintrag wurde 1 mal editiert, zuletzt 25.08.06, 15:33 Uhr
25.08.06, 15:50 Uhr #2 von Lolly80
Hi Kawa,
mal wieder ein kurzweiliger Moment ... aber die Kolumne in 10 Sekunden zu lesen hab ich net geschafft ... ich mag dich trotzdem ...
25.08.06, 18:29 Uhr #3 von BenKling3
-Kawa,

dass gilt auch für deine Kolumne, ist echt und bring die Haltung vieler auf den Punkt.

Wenn ich mich selbst reflektiere muss auch ich feststellen, dass diese 10 Sekunden oftmals reichen um eine erste Einschätzung zu erteilen. Jedoch möchte ich betonen, dass dieser erste Eindruck bei weitem kein bleibender sein muss wenn man sich trotz eventueller negativer "Schwingungen" (Zitat AC, danke, schön gewählt) auf ein Gespräch einlässt. Wenn das jedoch vom Gegenüber nicht angenommen wird, zeugt das meist von einer gewissen Oberflächlichkeit der- oder desjenigen.
Es gibt doch nicht tolleres als neue Menschen kennen zu lernen und da sollten 10 Sekunden zwar für einen ersten Eindruck jedoch bei weitem nicht für ein abschließendes Urteil reichen...

In diesem Sinne, schön das ich auch dich und die anderen kennen lernen durfte!

Gruß Ben
Dieser Eintrag wurde 3 mal editiert, zuletzt 25.08.06, 18:29 Uhr
25.08.06, 21:39 Uhr #4 von snowmax18
Ohne mir allzu schnell ein Urteil zu bilden:

Intention mit t
26.08.06, 10:14 Uhr #5 von cringer
@snowmax: recht hat er, das andere bedeutet was anderes. und das hat nix mit der neuen deutschen rechtschreibung zu tun **gg**
26.08.06, 13:01 Uhr #6 von Der_Praktikant
Hey ho, schöne Kolumne

Ich denke mal im wesentlichen stimmt das mit den 10 Sekunden, aber bei mir selbst beobachte ich, dass ich wenigstens einen Satz von der Person gehört haben muss.
Von mir aus auch innerhalb dieser 10 Sekunden

Meine Erfahrung ist, dass ich mir nach dem 1. Satz recht schnell eine Meinung zum Wesen der Person, die mir gegenüber steht, bilden kann. Zu den auffälligsten Eigenschaften - Aroganz, Oberflächlichkeit etc.

Ich stelle weiterhin fest, dass zum Mindesten bei mir der erste Eindruck eigentlich -- denk -- wirklich noch nie getäuscht hat, und ich mit meiner "vorschnellen Beurteilung" jedes Mal wieder richtig lag, wenn ich dann den Menschen näher kennengelernt habe
Das bedeutet übrigens eher selten etwas Negatives

Cya, Praktimarc
26.08.06, 14:27 Uhr #7 von karlmoik
Herzlichen Glühstrumpf zur ersten Kolumne..

wirklich gelungen und in der Tat auf die meisten Menschen umzusetzen. Allerdings wäre der bioligische Ansatz auch noch interessant gewesen. Denn rein wissenschaftlich bilden nicht wir unsere Meinung, sondern unser Körper weiss schon vor uns, ob wir den gegenüber sympathisch finden.

Der Ausdruck: "ich kann dich nicht riechen" kommt nicht von ungefährt. Dem Körper reichen in der Tat 10 Sekunden, um zu wissen: der ist auf unserer Wellenlänge. Das es aber oft länger dauert, bis wir hinter die Fassade eines Menschen gestiegen sind, liegt daran, dass wir uns durch eben selbige zu oft täuschen lassen.

Daher dauert es sehr oft sehr viel länger, bis wir merken: der ist uns sympathisch.. oder eben unsympathisch.. zum Teil dauert es sogar Jahre..
26.08.06, 15:37 Uhr #8 von sissy-jmc
gelungene Kolumne-sehr viel wahres dran- das ist (leider) nicht von der Hand zu weisen
26.08.06, 17:21 Uhr #9 von Kawakazee
@ snowmax und cringer: Danke für den Hinweis. Da aber hoffentlich jeder wei?, was ich meine ist das wohl hoffentlich eines der geringeren Probleme.
@ all:
Dieser Eintrag wurde 1 mal editiert, zuletzt 26.08.06, 17:21 Uhr
28.08.06, 01:13 Uhr #10 von HumphreY
Zum Thema ein aktueller Link:

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,4 33111,00.html

Tatsächlich geht es noch schneller als in 10 Sekunden.
Dieser Eintrag wurde 1 mal editiert, zuletzt 28.08.06, 01:13 Uhr
28.08.06, 23:25 Uhr #11 von Selbstfinder
Also ich hab ja das Thema vorhin im Enchilada schon mal angesprochen: Ich hab mir angewöhnt, genau eben diese 10 Sekunden für mein Urteil über einen Menschen auszublenden. Sympathisch? Unsympathisch? Ist mir völlig egal, denn was ist schon z. B. Antipathie? Ist es nicht vielleicht oft so, dass man z. B. den unbekannten Humor nicht versteht und sich auf den Schlips getreten fühlt, obwohl es gar nicht so gemeint war? Hat man den "arroganten Blick" oder das "demonstrative weg schauen" nicht vielleicht einfach völlig falsch interpretiert?

Es mag zwar durchaus sein, dass mein Unterbewusstsein sich vielleicht in diesen 10 Sekunden ein Urteil bildet, aber wie schon erwähnt, blende ich dieses einfach aus, in dem ich mir ganz bewusst und mit so viel Zeit wie ich will ein Urteil bilde.
Dieser Eintrag wurde 1 mal editiert, zuletzt 28.08.06, 23:25 Uhr
Neue Artikel aus Kolumne
Aktuelle Artikel (alle Rubriken)