Artikel: Straßenbahnimpressionen[ Kolumne ]
20.10.2006  |   Klicks: 3408   |   Kommentare: 20   |   Autor: Sophisticated83
Straßenbahnimpressionen
Das Stück Styropor liegt achtlos auf der Straße. Keiner an der Haltestelle will es recht bemerkt haben. Plötzlich, mit einem Geräusch, das nicht von dieser Welt scheint, fährt ein Laster über den Quadratmeter weißen, porigen Materials. Es knirscht und Sekunden später füllt sich die ganze Straße mit tausenden kleinen Kügelchen. Sie tanzen einen eigenen Rhythmus folgend mit dem Wind. Alle starren ihnen hinterher wie verlorengegangenen Träumen.
Ich sitze auf der kleinen Bank im Windschatten, starre ebenfalls den Kügelchen nach…
Ein Mann kommt auf mich zu, Ende zwanzig, zwangsweise anders sein wollend. Seine braunen ungepflegten Locken umringt ein schwarzes Haargummi am Hinterkopf. Er schreitet auf mich zu, ich schaue unbeirrt den weißen Bällchen nach, die langsam gen Osten ziehen.
Er steht direkt vor mir, ich kann seinen Geruch wahrnehmen, umständlich beugt er sich über mich um den Plan hinter mir zu lesen. Ich ducke mich fast unbemerkt, vor meinen Augen sein Schritt, ein Schlüsselanhänger linst aus seiner Hosentasche, nun weiß ich also, dass der Endzwanziger mit dem schönen T-Shirt „Der Betze brennt“ Christoph heißt und außerdem Harleys liebt, denn seine Gürtelschnalle verrät mir dies indes sein Gemächt direkt vor meinen Augen platziert wurde, der gute Christoph scheint mir ein wenig weitsichtig.

Die Bahn kommt mit reichlich Verspätung. Ich stelle mich in den Gang, meine Tasche geschultert. 16 Minuten bleiben, um die Welt neu zu entdecken.

Zu meiner Linken sitzen zwei Männer meines Alters, unterhalten sich über einen Gottesdienst. Der breite schwäbische Dialekt gekoppelt mit der ohnehin etwas stockenden Konversation macht mich neugierig. Ich blicke den wortkargeren der beiden an. Er ist unauffällig gekleidet, schaut zu Boden. Plötzlich hebt er den Kopf und schaut direkt in meine Augen. Blau und grün verschmelzen für zwei Sekunden und separieren sich dann wieder in der anonymen Masse, beschämt schaut er zu wieder zu Boden und widmet sich dem theologischen Schwabe neben ihm.

Eine ältere Frau steigt ein, ich mustere sie kurz und mein Blick verweilt bei ihr, ich bin fasziniert. Sie besteht aus einer Mischung aller mir bekannten Rosétöne dieser Welt. Alles an ihr ist rosa, die Strickjacke, ihre Hose, die kleinen Füße halt sie in Schuhe gesteckt, die den Namen Ballerinas nicht wirklich verdienen. Nägel und Lippen runden das bonbonartige Gesamtbild ab. Sie hält sich an der gleichen Stange wie ich fest, ich zähle acht Ringe an ihrer linken Hand und hoffe innerlich, dass das nicht ihre Ex-Männer sind, die aufgrund einer akuten Rosa-Phobie die Gute verlassen haben.

Rechts von mir sitzt eine Frau Mitte Dreißig, vertieft in ihre Lektüre. Ohne das Cover gesehen zu haben, ertappe ich mich dabei, zu raten, welchen Stoff sie sich zu Gemüte führt. Ihre getigerte Leggins rundet sie mit einem Oversizepullover aus den guten 80ern ab und liegt damit genauso im Trend wie im Trash. Arztroman mit romantischen Coverbild, wusste ich es doch. Gierig kämpft sie sich Zeile für Zeile durch eine Welt voller Schnulz, in der sie die eigene Tristesse des Daseins vergessen kann.

Ein Platz wird frei, ich setze mich und die Bahn leert sich Station für Station. Ein paar mp3-Player bestückte Teenies in viel zu großen Klamotten gruppieren sich zu einer Clique Mädels, die so vulgär und laut sprechen, dass alle Gespräche, die mühsam aufrecht erhalten werden, verstocken. Die Lauteste von allen, in jedem Ohr vier Kreolen und einen Jogginganzug tragend verabschiedet sich beim Aussteigen mit den Worten „Miss Perfect geht jetzt, Alda“
Ich schaue in die Gesichter der Menschen.
Alle schauen angestrengt ernst, ein latente Langeweile, die durch den Anschein, beschäftigt zu sein, übertüncht werden will, umgibt die Reisenden.
Viele sind vertieft in Bücher, Zeitschriften oder das rhythmische Nicken zur Musik die ihnen ihr Player einverleibt.
Kein Lächeln, keine Konfrontation – nur nicht auffallen.
Meine Haltestelle wird durchgesagt, ich drücke den erlösenden roten Knopf, mein Kopf ist voller Eindrücke der erdrückenden Normalität. 16 Minuten für die Menschheit in der Straßenbahn. Jeden Tag. Die Türen öffnen sich, ich schiebe mich an einem Kinderwagen vorbei in die Freiheit, das Lächeln auf meinen Lippen wird immer wieder stärker – so viele Schubladen, so viele Eindrücke, die verarbeitet werden wollen, bis morgen die Fahrt auf ein Neues startet....
 
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20 Kommentare zu diesem Artikel
20.10.06, 17:56 Uhr #1 von Kawakazee
Ajwohl! Die Welt ist eine Freakshow! Man kann die Bahn als Pars pro Toto für die Gesellschaft sehen. Recht hast du!
Mal wieder Spitze!
20.10.06, 19:28 Uhr #2 von Sonnenschutz
Darum fahre ich so gerne mit der Lini 2 in und aus der Neckarstadt-West. Was man da geboten bekommt, übersteigt deine blühendste Phantasie!
20.10.06, 20:01 Uhr #3 von maks
sophisti_kant_isch kolumne gefaellt...mehr davon...zu dem thema sage ich nur (leider nich mehr zeit):
durch_fensterspiegelung_leute_beobachten_effekt... geht besonders gut in Untergrund-Bahnen
20.10.06, 20:36 Uhr #4 von Jones49
Nice! Aus genau diesen Gründen liebe ich es Auto zu fahren!
21.10.06, 10:30 Uhr #5 von Sonnenschutz
Warum ich in Mannheim so gerne Straßenbahn fahre: schaut euch mal das Video dazu in meinem Profil an...
21.10.06, 10:31 Uhr #6 von MATU
naja nicht gerade interresant
21.10.06, 11:46 Uhr #7 von demadmax
...diesen Bericht müsste mal noch mit ner Morgens-7-Uhr-Bahn machen, wennse teilweise pennen und teilweise kreischen^^
21.10.06, 13:31 Uhr #8 von MATU
oder im Zug, da gibts die schlimmsten...
kopf im nacken, mund offen, halb schnarchend...
Dieser Eintrag wurde 1 mal editiert, zuletzt 21.10.06, 13:31 Uhr
22.10.06, 11:47 Uhr #9 von Lolly80
Hi AC,
mal wieder Kunstvoll einen Augenblick für die Schneckenhofwelt fest gehalten ...
23.10.06, 11:30 Uhr #10 von TimStone
Miss Perfect geht jetzt Aldaaaaaaaaaaaa Feierei Alta
23.10.06, 18:13 Uhr #11 von ErnestoStavro
Und da gibts in der Politik Empörung, wenn plötzlich die Existenz "bildungsferner Unterschichten" entdeckt wird, da muß man halt auch mal in Mannheim S-Bahn fahren, dann überrascht einen nichts mehr!
27.10.06, 21:48 Uhr #12 von Campino
schön dargestellt
28.10.06, 11:50 Uhr #13 von Sophisticated83
@all: danke für die blumen
29.10.06, 09:29 Uhr #14 von Lolly80
Ach ja, Nachtrag einer Heidelbergerin: OEG steht für "O Ewigs Gwackl" ... und net wie irrtümlich angenommen: Oberrheinische Eisenbahn Gesellschaft"
29.10.06, 11:14 Uhr #15 von winnipuuh
Gute Kolumne, aber wieso habt Ihr kein Bild aus einer hiesigen Straßenbahn genommen?
29.10.06, 13:19 Uhr #16 von Lolly80
Dann aber bitte eines aus der Nr. 5 am Morgen zur BA Coblitzweg ... das ist dann auch recht real ...
29.10.06, 16:25 Uhr #17 von Sophisticated83
@winni: weil ich keines hatte, hoffe, du verzeihst
31.10.06, 23:25 Uhr #18 von winnipuuh
@AC
01.11.06, 00:37 Uhr #19 von Philipp-
winnie nerv net

Und ich hab heute auch wieder mit dem Gedanken gespielt , später nicht nur explodierende Boxautomaten(die neben dem AUtoscooter) sondern auch Strassenbahnlinien anzubieten, erleichtert dem Staat und der Gesellschaft vieles
01.11.06, 06:29 Uhr #20 von FEUERBACH
"16 Minuten für die Menschheit in der Straßenbahn. Jeden Tag."

es soll leute geben, die fahren sogar mehrmals pro tag
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