Artikel: Silvesterkolumne 2005: Der Lemming im Sektglas [ Kolumne ]
31.12.2004  |   Klicks: 5150   |   Kommentare: 9   |   Autor: kroko
Silvesterkolumne 2005: Der Lemming im Sektglas
Den ersten Winterschnee bringt uns Frau Holle. Weihnachten bringt uns der Weihnachtsmann, Ostern der Osterhase, Pfingsten der Pfingstochse und den Tag der Deutschen Einheit brachten uns die Ossis. Aber wer bringt uns eigentlich Silvester?
Wenn der Kaltwasserzähler in der Waschküche die 100 Kubikmeter erreicht, auf unserer Festplatte erstmals das zehnte Gigabyte belegt wird oder Schumacher zum siebten Mal Weltmeister wird, dann interessiert das – gelinde gesagt - kein Marzipanschwein (vierblättrigen Klee kauendes welches).

Aber lass den Chronometer von 31/12/23/59/59 auf 01/01/00/00/00 springen - Herrschaftszeiten - dann wird vielleicht ein Aufstand veranstaltet.

Kaum jemand denkt dabei jedoch an das kleine stupsnasige Tierchen, dem wir jedes Jahr aufs neue Silvester zu verdanken haben.

Die Rede ist vom sogenannten Silvester Lemming, lat. silvester lemmus, auch als gemeines Jahreswechselfrettchen bekannt.
Der Silvester Lemming ist ein naher Verwandter der Loriotschen Steinlaus, kleiner als das kleinste Staubkorn, bloßen Auges kaum zu erkennen, mit wuschligem Fellbewuchs.


Um die segensreiche Lebensweise der Silvester Lemminge ausreichend zu würdigen, fangen wir am besten mit etwas an, das wir alle kennen:
Einem schönen Longdrinkglas, gefüllt mit kühlen Eiswürfeln, Rum und eiskalter Cola – apart abgeschmeckt mit frischem Zitronensaft und garniert mit einer Limettenscheibe.
Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen!

Was passiert nun, wenn das Unfassbare geschehen, und niemand diesen leckeren, leckeren Cocktail trinken sollte?
Nun: Die Eiswürfel schmelzen, der Havana steht ab und wird schal.

Genauso ist es auch mit „der Zeit“.
Nicht die Zeitung.
Sondern „die Zeit“, die Dir Deine wundervolle Jugend mit jedem neuen Tag raubt.
„Die Zeit“, die Du morgens fluchend von Deinem Wecker abliest, wenn es ans Aufstehen geht.

„Diese Zeit“ also steht mit der Zeit auch ab, wenn sie nicht konsumiert wird.

Nicht verwendete, verschwendete Zeit wird schal und beginnt zu müffeln, wie ein vor vier Wochen stehen gebliebener Havana mit Schimmelflecken an der Zitrone (oder der Limette).


Diese einfache Tatsache ist den wenigsten Leuten bewusst.

Wenn wir uns morgens auf dem Bahnhof wartend die Beine in den Bauch stehen, wenn wir BILD-Zeitung lesen. Oder wenn wir Fernsehen sehen (außer „arte“ naturellement) oder stundenlang im chat rumhängen:
Bei all diesen Tätigkeiten steht Zeit ab und wird ranzig.

Das war seit Anbeginn der Zeit selber so.
Aber am Anfang des Universums herrschte noch ziemliche Hektik: Urknall, neu entstehende Sonnen und Galaxien, lustige dunkle Materie die über den Nachthimmel jagte.
Niemand, der Zeit verschwenden konnte.

Dann aber formte sich aus den Abfällen eines dahingeschiedenen Sterns ein neues Sonnensystem mit einem an Überwässerung leidenden Planeten.
Nach einer Weile entwickelte sich auf diesem Planeten das Gleiche, was wir in Form des Schimmels auch schon auf unserer verdorbenen Limettenscheibe vorgefunden hatten: „Leben“.

Als nun die ersten Amöben anfingen im Urozean
rumzuhängen wurde das erste Mal Zeit vertrödelt und stand ab.


Mit der Zeit wurde das immer schlimmer.
Nach ein paar Milliarden Jahren war die Situation ziemlich unangenehm geworden.
Alles war voll von abgestandener Zeit, überall roch es übel nach verfaulten Minuten, Stunden und Aberjahrtausenden.

Gut, es war keiner da, der sich wirklich darüber beklagen konnte.
Außer der alten Mutter Evolution natürlich, der die Sache doch gewaltig zu stinken begann.
„So kann das nicht weitergehen“, dachte sich das Mütterchen.
Dann tat sie das, was später auch deutsche Politiker oder Studenten kurz vorm Examen par exellence auszeichnen sollte: Sie schob die Sache erst mal auf die lange Bank und machte gar nichts.

Das ging noch mal eine Milliarde Jahre so weiter und dann geschah es:

Aus dem Nichts tauchte plötzlich dieser kleine Geselle auf.
Mit dem schon erwähnten samtig weichen Wuschelhaarknäuel, mit heller Fellzeichnung und einem vorwitzigen Schnuppernäschen.
Was aber außer diesem herzzerreißend superniedlichen Aussehen noch viel wichtiger war:
silvester lemmus ernährte sich von abgestandener Zeit.


Der kleine Silvesterlemming stand gut im Futter, es gab ja genug angestaute vergammelnde Zeit, die es zu verköstigen galt.
Dummerweise vermehrte sich der kleine Silvesterlemming dermaßen explosionsartig, dass bald eine Masse von mehreren Trilliarden Bruttoregistertonnen der süßen Lemminge dicht an dicht den Erdball bevölkerte.
Es gab kaum noch Luft zum Atmen.

Da stach wieder der zufällige Finger der Evolution in die pulsierende Lemmingmasse.


Und wieder geschah etwas Wunderbares.

Einer der Lemminge (ein ziemlich fettes, mit Zeit vollgefressenes Exemplar) explodierte.
Er explodierte! POFF !
Und damit löste er eine gewaltige Kettenreaktion aus.

Durch die Energie der ersten Explosion explodierten auch die Lemminge links und rechts neben ihm: POFF ! POFF !
Und dann die Lemminge oben und unten von den Lemmingen die rechts und links explodiert waren: POFF ! POFF ! POFF ! POFF !
Und so weiter und so fort, bis schließlich in einer gewaltigen, sich fortsetzenden Explosionsfolge fast alle Silvester Lemminge auf einmal explodierten: SUPERPOFFL!

Nebenbei starben dadurch die Dinosaurier aus.



Heutzutage hat sich ein System regulativen Gleichgewichtes entwickelt:

Das ganze Jahr über ernähren sich die Silvester Lemminge von abgestandener Zeit, schlagen sich die Hucke voll mit verlangweilten Sekunden und grade mal so rumgebrachten Tagen.

Schließlich vermehren sie sich so stark und werden so fett, bis zu guter Letzt eine kritische Grenzmasse überschritten wird.
Erstaunlicherweise ist der Höhepunkt der Silvester Lemming Population stets am 31.12. erreicht.

Punkt Mitternacht startet dann die bereits beschriebene Kettenreaktion.
Silvester Lemming nach Silvester Lemming knallt mit einem satten POFF ins Lemming Nirwana.

Bei der Explosion zerfallen sie auf wunderbare Weise in eine feine Wolke neuen Zeitstaubs.
Die Summe all dieses neu entstandenen Zeitstaubs nennen wir in wissenschaftlichen Termen: „Das neue Jahr.“

Ein paar Silvester Lemminge bleiben natürlich immer übrig, und so beginnt der faszinierende Prozess bereits am ersten Januarmorgen von neuem.


Wir Menschen tragen fleißig dazu bei, die Kettenreaktion am Silvesterabend in Gang zu setzen.

Silvester Lemminge explodieren nämlich leichter unter dem Einfluss von Alkohol, grellem Licht und unnötig lautem Böllern.

Wer an Tier und Natur interessiert ist, kann mit etwas Mühe den kleinen Zeitfresser in freier Wildbahn beobachten.

Stellen wir zum Beispiel in der Silvesternacht eine einfache Lemmingfalle auf.
Dabei haben sich langstielige Behälter aus Glas als am geeignetsten erwiesen.
Da die Luft zu Silvester bereits hinreichend mit Silvester Lemmingen angefüllt ist, verfangen sich auch einige Exemplare in dem Glas und können aufgrund ihrer hinreißend tollpatschigen Art und der Langstieligkeit des Behältnisses nicht mehr entkommen.

Wenn wir jetzt etwas Alkohol hinzu schütten, Sekt ist hierzu hervorragend geeignet, können wir beobachten, wie die kleinen Silvester Lemminge im Glas explodieren und in kleinen Bläschen nach oben steigen.


Es gibt auch einige Gourmets unter den Lemmingen.
Diese nehmen den gefährlichen Weg durch das menschliche Ohr auf sich, um sich auf den Gehirnwindungen ihres Wirts eine besonders sinnlos eingesetzte Gehirnzelle auszusuchen.
Auf diese hocken sie sich und saugen genüsslich an der, von dieser Gehirnzelle erzeugten, verschwendeten Zeit.
Beliebt sind hierbei insbesondere die Gehirnzellen, die dazu dienen Radiowerbung zu verarbeiten oder solche, die zum Lesen dieser Kolumne oder (extrem delikat!) zum Verstehen von BWL-Theorien verwendet werden.

Damit auch diese, von ihren Artgenossen isolierten Silvester Lemminge zur rechten Zeit implodieren, kann es hilfreich sein, durch direkte Zuführung von Alkohol dem kleinen Kerl auf die Sprünge zu helfen.
Ein paar oral applizierte Drinks reichen schon, und wenn der Lemming, verträumt auf seiner Lieblingsgehirnzelle sitzend, das Alkoholmolekül in der Blutbahn auf sich zuschießen sieht, ist es auch schon zu spät. POFF! Happy New Year!
Leider werden dabei auch die entsprechenden Gehirnzellen mit vernichtet.
Aber es betrifft ja nur Überflüssige.

Mit Silvesterknallerei und Lichtfontainen wird dann den restlichen Lemmingen der Garaus bereitet.
Zu Hunderten sitzen sie auf der Spitze der Rakete ... Heisssa, hebt sie ab – ist das ein lustiger Ritt für die kleinen Racker - und dann: WOMM ! Rakete und Silvesterlemminge explodieren gemeinsam am Nachthimmel, in bunten Sprenkeln regnen sie als neues Jahr auf die Erde zurück.


Einige besonderes faule und vollgefressene Exemplare des Silvester Lemmings überleben Silvester, weil die Kettenreaktion ihrer Brüder und Schwestern sie nicht erreicht.
Dann schleppen sie sich mit ungesunder Ernährung, ohne Sport und mit latent schlechter Laune, die sie an anderen auslassen, durch das neue Jahr.
Irgendwann zerplatzen aber auch sie mit einem knarzenden Geräusch. Mitten im Jahr. Einige schon nach wenigen Tagen, andere erst im April oder Mai.
Ihr kennt dieses Geräusch. Und den geläufigen Namen dieser entarteten Exemplare: „Die guten Vorsätze.“


Noch ein kleiner Geheimtipp:
Nimm kurz nach Mitternacht Deinen Schatz bei der Hand. Zieht Euch in eine stille Ecke oder einen unbenutzten Raum zurück, wo es aufgrund ausreichender Stille und Dunkelheit noch einige unzerplatzte Lemminge gibt.
Nachdem Ihr noch etwas Sekt getrunken habt, balle Deine Hand zur Faust und öffne sie wieder gaaanz laaaangsaaam.
Mit etwas Glück seht Ihr da einen vorwitzigen Silvester Lemming sitzen - so dick und rundlich, dass er ohne Lupe zu erkennen ist - wie er an einem Stückchen abgestandener Zeit knabbert. Süß, oder?
Und wie er Euch jetzt anschaut! Mit seinen großen schwarzen Augen. Und fienzige Geräusche von sich gibt: whieep, whieep, whieep.
Wenn Ihr jetzt gemeinsam mit Eurer Alkoholfahne gleichmäßig und sehr, sehr vorsichtig auf die Handfläche blast, könnt Ihr sehen, wie der Lemming sanft auf der Alkoholwolke nach oben steigt.
Euch zuwinkt !

Jetzt muss nur noch einer von Euch beherzt mit beiden Händen in der Luft genau da zusammenklatschen, wo der kleine Lemming grade schwebt ... whieep whieeep KLATSCH !
Und ohne lange leiden zu müssen zerstaubt der kleine Kerl vor Euren Augen in ein frohes neues Jahr: POPP!
Und weil Ihr grade alleine seid, solltet Ihr es ihm sogleich nachtun und ungehemmt lospoppen.
Denn auch das ist wahr: Mit was auch immer die Neujahrsnacht begonnen wird, von dem wird auch das ganze restliche Jahr bestimmt sein.


In diesem Sinne:

Ein schönes Neues Jahr 2005, viel Erfolg, Gesundheit und ein erfülltes Sexualleben!
 
Bewertung [1-5]: 3.6 Punkte [23 Stimmen]  
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9 Kommentare zu diesem Artikel
01.01.05, 12:25 Uhr #1 von wolf
*superpoffl!*
01.01.05, 14:27 Uhr #2 von Havanni
tja so isses nunmal,sag's ja immer wieder
02.01.05, 12:02 Uhr #3 von SodaF
och neee... hätte ich die nur mal füher gelesen....
Was solls.. wird halt dieses Jahr wieder nur gesoffen
02.01.05, 20:27 Uhr #4 von Nordish-by-nature
Sehr interessanter wissenschaftlicher Ansatz..werde diesem beim nächsten Silvester auf den Grund gehen
04.01.05, 16:54 Uhr #5 von Metamorphose
Oh mein Gott wenn Silvester den Rest vom Jahr bestimmt dann wird dieses jahr der Abschuss schlecht hin !!!
07.01.05, 00:26 Uhr #6 von lerka
soll das heissen- ich werde das ganze 2005 auf fremde kinder aufpassen müssen?!
08.01.05, 00:09 Uhr #7 von tobi
Vielleicht hätten wir die Kolumne doch 'nen Tag früher freischalten sollen.
Dieser Eintrag wurde 2 mal editiert, zuletzt 08.01.05, 00:09 Uhr
10.01.05, 07:15 Uhr #8 von nandus
Sehr geil! Wer hat die geschrieben?!?
11.01.05, 18:09 Uhr #9 von martin
@nandus schau mal auf die Ueberschrift "krokos Kolumne"
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